Ich habe keine Feldherrinnenperspektive mit 360-Grad-Blick zu bieten, keine Managementstrategien anzupreisen und auch kein Unternehmen am Start (leider!), das der ganzen Misere ein Ende bereiten würde. Ich habe noch nicht mal besonders gelitten in den Monaten März bis Juni, da mein Partner große Teile des Homeschooling-Programms mit unserer Tochter absolviert hat. Die dafür selbstverständlich schnelles Internet zur Verfügung hatte und wahlweise mit dem Tablet, Laptop oder einem stationären Rechner arbeiten konnte.
Ich bin also nur Mutter einer ab diesem Schuljahr Drittklässlerin, Elternvertreterin an einer durchschnittlichen Hamburger Grundschule und kann aus dieser Perspektive sagen: Ich bin zornig. Den kleineren Teil meiner Wut bekomme ich selbst ab, denn es ist mit der Bildungspolitik ein bisschen so wie mit dem Billigfleisch. Ich hätte das schon vor Corona alles wissen können. Ich hätte schon vor Corona wissen können, dass DIE POLITIK (die es in diesem Zusammenhang verdient hat, undifferenziert in einen großen Topf geworfen zu werden) es toleriert oder in Kauf nimmt, dass wir Kinder zurücklassen. Bildungsschere – was für ein geradezu harmloses Wort für ein riesiges Desaster.
Viele Kinder haben weder Rückzugsräume noch die Ausstattung, um mitzuhalten
Während der Coronazeit konnte ich es dann nicht mehr verdrängen: Was für einen Vorteil zum Beispiel mein Kind gegenüber Klassenkameradinnen hat, deren fünfköpfiger Familie genau ein internetfähiges Handy zur Verfügung steht. Was für große Anstrengungen Lehrer*innen unternehmen, um das auszugleichen, was DIE BEHÖRDEN (ebenfalls keine Differenzierung nötig, wobei ich die Hamburger Schulbehörde auch gern gesondert und ganz allein ignorant und enttäuschend finde) beschlossen haben zu ignorieren.
Eine Bertelsmann-Studie aus dem Juli beschreibt die Situation der Kinder so: „Auch beim Homeschooling sind Kinder aus armen Verhältnissen benachteiligt, verfügen sie doch seltener über die notwendige technische Ausstattung und haben zum Teil auch keine Rückzugsräume zum ungestörten Lernen. 24 Prozent der Kinder im Grundsicherungsbezug haben keinen internetfähigen PC im Haushalt, 13 Prozent keinen ruhigen Platz zum Lernen.“ Der Bremer Armutsforscher René Böhme fasste es in einem Interview mit dem „Weser-Kurier“ so zusammen: „Jetzt kommt zu dieser extrem hohen Selektivität im Bildungssystem mit Homeschooling noch das sozial Selektivste dazu, was man machen kann: den weiteren Bildungsprozess dem elterlichen Haushalt überlassen.“
Wir können uns keine Generation Corona leisten
Wir nehmen also das, was schon vor Pisaschockjahrzehnten das Schlechteste am deutschen Bildungssystem war, und verabreichen uns noch mehr davon, wir investieren in Eliten und ignorieren Kinder ohne Lobby. Ich gehe als Journalistin vorsichtig um mit großen Worten, aber hier dann doch: Diese Kinder brauchen unsere Solidarität, sie brauchen den Einsatz von denen, die eher mehrere internetfähige PCs und genug ruhige Plätze zum Lernen zu Hause haben. Sie brauchen in den nächsten Jahren diese Solidarität, damit sie keine Generation Corona werden, sondern vielleicht einfach Kinder, die wir nicht zurückgelassen haben. Meine Solidarität und Aufmerksamkeit werden sie nicht wieder verlieren.
Wenn Behörden diese Nöte weiter ignorieren oder nicht schnell genug reagieren, braucht es zu organisiertem, laustarkem Protest auch lokalen Aktivismus. Wir als Elternrat werden zum Beispiel versuchen, Mentorennetzwerke für Software zu initiieren und uns um Hardware kümmern. Wenn in der nächsten Woche Kinder in Hamburg eingeschult werden, ist es genauso wichtig, zu schauen, ob ihre Familien über Tablets verfügen wie ob sie ordentliche Schulranzen haben.
Zukunft der Bildung
August 20, 2020 at 10:30PM
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Bildung und Kinder haben in Deutschland keine Lobby - XING Klartext
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Bildung
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