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Statt Klopapier­installation vorm Lehrerzimmer - Süddeutsche Zeitung

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Frank-Walter Steinmeier steht vor einem leeren Klassenzimmer, er sagt: "Es ist geschafft!" Genau genommen handelt es sich nicht um ein echtes Klassenzimmer, die Szene wurde in einem Saal des Bundespräsidialamtes aufgezeichnet. Und noch genauer genommen ist dieser Saal auch nicht ganz leer, an jedem Stuhl hängt ein bunter Luftballon. Der Bundespräsident wendet sich an die Luftballons mit den Worten: "Aber irgendwas, irgendwas fehlt doch." Ein eher ungewöhnliches Format sei das, heißt es aus dem Bundespräsidialamt. Das kann man wohl sagen.

Die Ballons stehen für etwa 1,9 Millionen junge Menschen, die gerade an deutschen Gymnasien, Gesamtschulen, Berufsschulen und Realschulen ihre letzten Prüfungen und Klausuren hinter sich gebracht haben. Es sind Tage, in den sich bei den meisten von ihnen die Gewissheit, dass etwas zu Ende geht, mit der Ungewissheit, was nun kommt, mischen dürfte. Mit dem Übergang vom durchstrukturierten Schulalltag in das Überangebot an Optionen im wahren Leben hatten auch vorangegangene Jahrgänge zu knapsen. Der Abschlussjahrgang 2020 allerdings steht vor besonders großen Fragezeichen: Wird mein erstes Semester stattfinden? Wie finanziere ich mein Studium, wenn die Kneipen sterben? Kann ich meinen Ausbildungsplatz antreten? Und dann müssen zu allem Überfluss wegen der Pandemie auch noch sämtliche Abschlussfeiern, Abschlussstreiche und Abschlussbesäufnisse ausfallen.

74 Prominente machen mit: Rezo, Sängerin Vanessa Mai, Fußballer Toni Kroos und Luisa Neubauer

So mancher Rektor wird es verschmerzen können, wenn in diesem Jahr mal ausnahmsweise keine Klopapierinstallationen das Eingangsportal versperren, keine Lehrerparkplätze zugemauert werden, keine Nirvana-Coverband auf dem Schuldach spielt. Und der Eindruck, das deutsche Bildungssystem befähige seine Absolventen vor allem dazu, Mottopartys mit professioneller Lichttechnik zu organisieren und Mathelehrer auch unter reichlich Apfelkorneinfluss mit der Spritzpistole zu treffen, hatte ja durchaus etwas Irritierendes. Aber für die Abschlussklassen des Corona-Jahres fällt damit eben auch ein Abschlussritual aus, eine letzte kollektive Abschlusserfahrung, bevor alle ihre eigenen Wege gehen. Darüber macht sich auch Frank-Walter Steinmeier seine Gedanken. Es sei ihm ein großes Anliegen, ist aus seinem Haus zu hören, den nunmehr ehemaligen Schülerinnen und Schülern "ein Trostpflaster auf diese Enttäuschung zu kleben".

Der Bundespräsident hat also eine sogenannte "Digitale Abschlussfeier 2020" ins Leben gerufen. Sie besteht im Wesentlichen aus einer Online-Kampagne, also einem Hashtag sowie einer Internetseite, die an diesem Mittwoch um sieben Uhr freigeschaltet wird. Aber irgendwie ganz charmant ist dieses Projekt trotzdem.

Ines Strohmaier, 18 Jahre, Abiturientin des Gertrud-von-le-Fort-Gymnasiums in Oberstdorf, sagt in einem Kampagnenvideo: "Was ich am meisten an meiner Schule vermissen werd': Meine Leute, die immer für mich da waren." Die darf auch ein Staatsoberhaupt derzeit nicht zum Feiern zusammentrommeln, aus Gründen des Infektionsschutzes. Aber Steinmeier hat immerhin 74 Prominente organisiert, die 1,9 Millionen verhinderten Abschlussfeierbiestern ihren virtuellen Trost spenden.

Ein halbes Team aus aktuellen und ehemaligen Fußball-Nationalspielern, Schauspieler wie Daniel Brühl, die Band Silbermond und die Sängerin Vanessa Mai machen mit sowie Leute, die wirklich jedes Schulkind kennt: Rezo und Luisa Neubauer. Erfrischend spontan und verwackelt wirken die meisten Botschaften. Bei der Wohnzimmeraufnahme der Schauspielerin Sibel Kekilli scheint ein Aschenbecher im Hintergrund zu stehen, Fußballer Toni Kroos, der im Alter von 16 Jahren zum FC Bayern kam, fasst seine Schulkarriere mit Grüßen aus Madrid so zusammen: "Die Profis haben, was für ein Pech, immer vormittags trainiert. Deshalb war die Schule dann bei mir sehr schnell beendet. Ich bin gut damit gefahren." Alles in allem erstaunlich wenig Vorbildgeschwafel für eine politisch orchestrierte Vorbilderkampagne.

Thomas Gottschalk, 70, und Frank Elstner, 78, sind übrigens auch dabei. Große Einsätze möchte man aber nicht darauf wetten, dass alle Absolventen des Jahrgangs 2020 diese Gratulanten erkennen, ohne zu googeln.




July 15, 2020 at 05:00AM
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